PhD
The bodies we are (not). Ein choreografisches Forschungsprojekt zum (Aus-)Üben von Selbst-Distanzierung

publiziert im transcript Verlag
In ihrer künstlerisch-wissenschaftlichen Dissertation untersucht Antje Velsinger die Rolle des Körpers in der westlichen neoliberalen Gesellschaft und entwickelt choreografische Strategien des Sich-selbst-fremd-werdens und des Spielens als zwei Mittel zur Emanzipation des Körpers vom neoliberalen Imperativ der Optimierung und Kontrolle. Hierbei stehen theoretische und praktische künstlerische Perspektiven in einem kontinuierlichen Dialog. Ausgehend von der soziologischen Beobachtung, dass der Körper in der westlichen neoliberalen Gesellschaft zunehmend als „Identitätsprojekt“ und „gestaltbares Objekt“ (Gugutzer) mit Fokus auf Selbstaufwertung und Selbstoptimierung (Villa, Abraham) genutzt wird, untersucht die Dissertation, wie das choreografische Feld als Grauzone zwischen Theorie und Praxis (Hewitt) genutzt werden kann, um einen alternativen Umgang mit dem Körper zu imaginieren, vorzuschlagen und zu erproben. Basierend auf dem Konzept der Zweiheit des Körpers (Plessner, Gugutzer et al.) postuliert die Arbeit zwei Hauptstrategien zur Emanzipation des Körpers von dem oben skizzierten gesellschaftlichen Imperativ.
1. Sich selbst fremd werden:
Ausgehend von Gallaghers Konzept des body image wird das Sich-selbst-fremd-werden untersucht, indem choreographische Strategien entwickelt werden, mit denen sich individuelle Körperbilder bewusst temporär verändern und transformieren lassen. In diesem Zusammenhang werden Merleau-Pontys phänomenologischer und Butlers konstruktivistischer und performativer Körperbegriff diskutiert und Hegels Kluft zwischen Sinneswahrnehmungen und ihren Benennungsprozessen wird als kreatives Potenzial für die selbstbestimmte Transformation von Körperbildern betrachtet. Das erste künstlerische Forschungsprojekt „The bodies we are“ greift dieses kreative Potenzial auf, indem es mit der körperlichen Aneignung von ungewohnten Handlungen, Wahrnehmungen, Körperbeschreibungen und Methoden (z. B. Method Acting) experimentiert.
2. Mit dem eigenen Selbst spielen anstatt daran zu arbeiten:
In Anlehnung an Schillers Spielverständnis und Sennetts Erkenntnisse zu den sich wandelnden Körperkonzepten in den Gesellschaften des 18., 19. und 20. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt des zweiten künstlerischen Forschungsprojekts „Let’s face it!“ die Selbst-Distanzierung durch spielerisches Verwischen eindeutiger Subjekt-Identifikation. Das Gesicht als zentralen Bezugspunkt der Körperidentifikation betrachtend, werden in „Let’s face it!“ durch das Experimentieren mit Masken und das Spiel mit den Funktionen des Gesichts choreografische und performative Strategien zur Distanzierung vom eigenen Gesicht entwickelt.
Die in den künstlerischen Forschungsprojekten entwickelten choreografischen Strategien zum (Aus-)Üben von Selbst-Distanzierung ermöglichen eine spezifische Haltung zum Körper, die sich von der neoliberalen Vorstellung des Körpers als Ort der Selbstoptimierung abgrenzt. Hierbei wird der Körper als empfindsamer Container gedacht, der zum Ort der spielerischen und experimentellen Konstruktion, De-Konstruktion und Re-Konstruktion unterschiedlicher temporärer Körperbilder wird. Hierdurch wird es möglich, nicht nur jene körperlichen Aspekte zu integrieren, welche die neoliberale Selbstoptimierungslogik ablehnen muss, sondern auch alternative Wünsche, Interessen und Vorstellungen in Bezug auf den eigenen Körper und das eigene Selbst zu entwickeln. So wird das (Aus-)Üben von Selbst-Distanzierung als Strategie vorgeschlagen, die Potenziale des Körpers über die Logik der Optimierung und Kontrolle hinaus zu erweitern, indem alternative, aber ungewohnte Selbst- und Körperwahrnehmungen initiiert und erprobt werden.